Am 13. Juli 2016 wurde in Radevormwald in der Burgstraße ein Stolperstein für Hans Rolf Selbach verlegt.
Hans Rolf Selbach
war mein Großonkel. Er wurde 1944 im Alter von 13 Jahren, kurz vor seinem 14.
Geburtstag von Ottilie Schellander im Auftrag von Franz Niedermoser und Antonie Pachner ermordet. Letztere war Oberschwester des Siechenhauses
Klagenfurt, in dem als Teil des Landeskrankenhauses Klagenfurt, zwischen 700
und 900 Schutzbefohlene umgebracht wurden. Sie waren Opfer des Euthanasie-Programms und wurden als „unwertes Leben“ zur
Tötung bestimmt. Hans Rolf hatte Epilepsie und kam mit
einer Gruppe von 40 Kindern aus Mönchengladbach „zum Zwecke der Tötung“ nach Klagenfurt. Nur ein Kind überlebte den
Aufenthalt in der „Heilanstalt“ unter der Leitung von Dr. Franz Niedermoser.
Dabei gingen die
Mörder vorsichtig vor und töteten nie zu viele ihrer Patienten und Patientinnen
zur gleichen Zeit. Auch bei den Todesursachen gab man sich Mühe, ein
natürliches Ableben gegenüber Angehörigen vorzutäuschen (Luminal-Schema).
Schwester Ottilie Schellander wurde nach dem Krieg in Klagenfurt zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde zu lebenslänglicher Kerkerhaft umgewandelt. Nach 9 Jahren Haft wurde sie vom österreichischen Bundespräsidenten begnadigt.
Schwester Ottilie Schellander wurde nach dem Krieg in Klagenfurt zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde zu lebenslänglicher Kerkerhaft umgewandelt. Nach 9 Jahren Haft wurde sie vom österreichischen Bundespräsidenten begnadigt.
Hans Rolf mit seiner Schwester Hannelore, meiner Großmutter |
Hans Rolf lebte
als jüngstes Kind in Radevormwald in der Burgstraße. Er spielte Akkordeon und
war ein lebensfrohes Kind. Sonst weiß ich nicht viel über ihn, da seine
Geschichte lange ein Tabu-Thema in der Familie war. Mein Großvater soll zu
meiner Großmutter gesagt haben: „Bleib mir fort mit dem Verrückten aus deiner
Familie“.
Seit einigen
Jahren aber hat sich meine Familie mit unserem Urgroßonkel, Großonkel und Onkel
wieder beschäftigt.
Dass viele Fakten recherchiert und zusammengetragen über
den industriell betriebenen Mord an behinderten Kindern im Nazi-Regime
betrieben wurden, haben wir Helge Stromberger
zu verdanken, der Unmengen an Archivmaterial
gesichtet und sortiert hat.
Einer Tante von
mir, Petra
Ebbinghaus, ist es zu verdanken, dass es nun am Wohnort von Hans Rolf,
meiner Großmutter und Petras Mutter einen Stolperstein gibt. Mit Helge
Stromberger hatte sie Emailkontakt. Herr Stromberger hat mir dankenswerter Weise
erlaubt, aus diesem Emailverkehr, in dem er auf Einzelheiten zum aktenkundigen Schicksal
meines Großonkels eingeht, zu zitieren (siehe unten).
Von Hans Rolf hat
seine Familie nicht lange vor seiner Ermordung Nachricht aus Klagenfurt
erhalten, dass es „ihm schlechter ginge“ und wenn man ihn noch einmal lebend
sehen wolle, müsse man sich beeilen. Daraufhin ist seine Mutter, meine
Ugroßmutter auf die Reise nach Klagenfurt gegangen.
Noch vor
Kriegsende gab es einen weiteren Kontakt mit dem Leiter der Siechenanstalt in
Klagenfurt, Dr. Niedermoser. Die älteste Tochter des Hauses, die Schwester von
Hans Rolf, hatte vor zu heiraten. Dafür brauchte sie einen Nachweis, dass die
Krankheit ihres kleinen Bruders, kein erblicher Fehler gewesen sei, da ihr
sonst die Heirat verwehrt worden wäre. Dr. Niedermoser konnte schriftlich
bestätigten, dass es sich bei der Epilepsie jedoch um die Folgen eines Unfalls (ein
Sturz von einer Treppe) gehandelt habe. Dieser Umstand hatte wohl auch schon
zuvor die Schwestern vor einer Zwangssterilisation
bewahrt.
Zu den
Zwangssterilisationen entschied noch
1957 die Bundesregierung in einer Stellungnahme an den Deutschen Bundestag,
dass ihre 400.000 Opfer keinen Anspruch
auf Entschädigung haben, da es sich „nicht um ein typisches
nationalsozialistisches Gesetz“ gehandelt habe.
Die Nachfahren von Hans Rolf Selbach bei der Stolpersteinverlegung mit Künstler Gunter Demnig |
Schriftverkehr mit Helge Stromberger
Sehr geehrte Frau Petra Ebbinghaus!
Die Tötung von Hans Rolf Selbach (1930 - 1944) im Siechenhaus in
Klagenfurt ist in den Prozessunterlagen gegen die hiesigen Euthanasie-Ärzte und
-schwestern aus dem Jahr 1945/46 gut und sicher belegt. Diese Prozessunterlagen
sind mittlerweile im Kärntner Landesarchiv dauerhaft aufbewahrt. Allerdings
gibt es nicht die eine Aktenseite, die die Ermordung ihres Onkels (z.B. auf
einer A-4 Seite) umfassend dokumentieren und belegen würde und deren Kopie ich
Ihnen dann auch rasch senden könnte.
Ich hab bei meiner Recherchearbeit zu den Klagenfurter Euthanasiemorden
etliche tausend Seiten Gerichtsakten und auch noch andere Unterlagen
durchgearbeitet, um zumindest den Großteil der Klagenfurter Euthanasieopfer
auch namentlich eruieren zu können.
Gedenkstätte für die Opfer in der Psychatrie Klagenfurt |
- Die Leiterin des Siechenhauses „Antonie Pachner“ (über sie gibt es eine
Wikipedia-Site) hat in den kriminalpolizeilichen Vorerhebungen im Herbst 1945
u.a. angegeben: „Getötete Pfleglinge … Selbach Hans, gest. am
8.3.1944“; (richtig wäre 1. März)
- Aus einer dem Gerichtsakt beigelegten Eingangs- und Austrittsliste aller
Siechenhauspatienten zwischen 1939 und 1945 geht sodann hervor, dass „Hans Selbach“
am „20 mai 1943“ als Teil von einem vierzigköpfigen Transport aus „Gladbach“ in
Klagenfurt angekommen ist. Der gesamte Transport von behinderten Kindern und
Jugendlichen war von vornherein zur Tötung bestimmt und ist bis Kriegsende, mit
einer einzigen Ausnahme, dann auch getötet worden.
- Ausgetreten aus dem Siechenhaus ist Ihr Onkel (nun „Settbach Hans“
geschrieben) am „ 1 mär 1944“. Sein Leichnam wurde auf den Klagenfurter
Friedhof Annabichl gebracht und in ein Armengrab gegeben. Das Gräberfeld und
die Stelle wo er begraben ist geht auch heute noch aus den sehr detaillierte
Aufzeichnungen der Friedhofsverwaltung hervor. Allerdings wurde sein Grab nicht
erhalten, sondern in den Jahrzehnten nach dem Krieg neu belegt.
- aus dem stenographischen Protokoll der insgesamt zweiwöchigen
Hauptverhandlung i. J. 1946 gegen die Klagenfurter Euthanasie-Mörder und
Mörderinnen geht sodann noch hervor dass Hans Selbach in der Zeit als
er noch gelebt hat einmal Besuch von seiner Mutter bekommen hat.
Hans Rolf Selbach im Matrosenkostüm als kleiner Junge mit weiblichen Familienmitgliedern |
Im Jahr 2003 hab ich dann einen recht intensiven Mail-Kontakt mit dem
Archivleiter Gerd Lammers vom Stadtarchiv in Mönchen-Gladbach, Aachenerstraße
2, gehabt. Von dieser Seite geht auch hervor, daß Hans Rolf Selbach und
die 39 anderen nach Klagenfurt zur Tötung verschickten Kinder und Jugendlichen zuvor in einer Einrichtung der „Hephata“
untergebracht waren. Selbach wurde in diese Hephata-Einrichtung am
„2.11.1943“ aufgenommen.
[...]
In zwei Buchpublikation, die ich in den letzten Jahren gemacht hab, ist
Hans Rolf Selbach dann ebenfalls als Naziopfer in Klagenfurt genannt:
- Stromberger, Helge: Die Wahrnehmung der Vernichteten ermöglichen! In:
Memorial Kärnten/Koroschka (Hg.). Die Gedenkanlage in Annabichl neu gestalten!
Drava Verlag. Klagenfurt 2009. Seite 30 bis 54.
- Nadja Danglmayer, Helge Stromberger: Tat-Orte. Schau-Plätze –
Erinnerungsarbeit an den Stätten nationalsozialistischer Gewalt in Klagenfurt.
DRava Verlag. KLagenfurt 2009. (Hier die drei Kapitel: NS-Medizin im
Gaukrankenhaus Klagenfurt; Friedhof Annabichl; Namen von begrabenen NS-Opfern.
Den Text gab es zuletzt auch auf der Site www.erinnern.at).
Eine etwas umfassendere Gesamtdarstellung der Vorgänge in der Klagenfurter
Psychiatrie und im Siechenhaus (jedoch keine namentliche Erwähnung von Selbach)
gibt es in:
- Helge Stromberger: Die Ärzte, die Schwestern, die SS und der Tod –
Kärnten und das produzierte Sterbenim NS-Staat. Drava Verlag. 3.Aufl.
2002 Klagenfurt.
Mit freundlichen Grüßen
Helge Stromberger
Hans Rolf mit seiner Mutter - ein spontanes Foto am Bahnhof am Tag an dem er seiner Familie entrissen wurde |
English version
On 13th July, a so-called “stumbling stone”
(Stolperstein) got dedicated to my grand uncle Hans Rolf Selbach at his birth
place in Radevormwald. A Stolperstein is a cobblestone-size cube left in the
ground as a remembrance for individual victims of German Nazism.
Hans Rolf was 13 when he got murdered in 1944. His nurses
injected an overdosis of barbiturates into his body.
He was sent to treatment
because of his epilepsy and considered “unworthy life” by the Nazi’s euthanasia
program. Two years earlier he was dragged out of class by police and prohibited
to go to school any longer. When his parents were forced to bring him to
hospital, they were relatively sure that it will be an eternal farewell. At the
first “hospital” they experimented on him by infecting him with tuberculosis.
When he was sent to the treatment centre in Klagenfurt together with 100 other
kids, the secret but official papers stated “termination enforcement”.
Officially, they informed Hans Rolf’s mother about “worsening conditions of her
son”.
A year later, the family requested and received a statement
by the leading doctor and murderer of their son, Dr Niedermoser, in Klagenfurt,
that Hans Rolf’s sickness was not a genetic defect but caused by an accident
when he was two (falling down stairs). His oldest sister needed the statement
since otherwise her marriage request would have been declined. Already years
before, Hans Rolf’s sisters were happy not to have been targeted for forced
sterilisation under the Law for the Prevention of Hereditarily Diseased
Offspring.
The nurses and the doctor were sentenced to death and life
time prison in Klagenfurt, Austria, in 1946. The responsible nurse Ottilie Schellander was pardoned in 1955,
i.e. after nine years.
Now, 73 years after his death, his decessors and
representatives of his home town came together to commemorate him and the
injustice and cruelty around his death.