Der Karneval derRollenspiel Blogs für den Januar 2017 beschäftigt sich mit dem Thema„Verwunschen & verzaubert“. Ich habe mir vorgenommen auch wieder etwas
beizutragen und nehme das Thema zum Anlass zu meinem aktuellen Lieblingsthema
(magische) Rituale beim Rollenspiel beizutragen.
Spätestens seit
meinem Besuch bei der Knutepunkt / Solmukohta Konferenz 2016, aber auch durch
die Beschäftigung mit Spielen wie Monsterhearts, Skeletons oder Ten Candles
sind Rituale als Spielintensität förderndes Element für mich die spannendste
Herausforderung für den Spieltisch.
Ich möchte in
diesem Artikel die magische Wirkung von kleinen und großen Ritualen auf das
Spiel anhand von Beispielen vorstellen, von meinen Erfahrungen erzählen und
Umsetzungsideen auch für eher traditionelle Runden nennen.
Saft, Kraft, Monstermacht
Das erste mir
untergekommenes Beispiel eines in einem Regelheft verankerten Rituals ist
interessanterweise auch direkt und unmittelbar mit Magie verknüpft. Es handelt
sich um die in DSA1 und DSA2 verankerten Zauberformeln. Zumindest bei DSA1 wird
explizit gefordert, dass die Zauberformel korrekt und vollständig ausgesprochen
wird. „Ecliptifactus Dunkle Macht, Kampfgefährte aus der Nacht“, „Blitz dich
find, werde blind“ und „Motoricus Motilitich, leblos Ding bewege dich“ wurde
in den 80ern und 90ern an vielen Spieltischen gestolperreimt.
Ja, das bin ich. Und ich habe auch in Reimen gesprochen. |
Oft und ausgiebig
wurde sich über diese Eigenart bei DSA lustig gemacht. Auch ich fand die
Zauberformeln und vor allem die Anweisung erst noch eine ganze Weile albern,
dann habe ich sie zumindest in geschriebener Form nostalgisch verklärt.
Inzwischen sehe ich das kleine Ritual des Aussprechens der Formel mit anderen
Augen. Magie ist etwas Außergewöhnliches und sicher jedes Mal Unheimliches in
Aventurien. So sollte es auch am Spieltisch sein. Das Sprechen der Formel gibt
diesem Aspekt eine besondere Bedeutung.
Seit einigen
Jahren sind die Zauberformeln in ernsterer Form an den Spieltisch meiner
Hauptrunde zurückgekehrt. Wieder waren es DSA Produkte, die dafür gesorgt
haben. Die Reihe der Götter-Vademeca enthielt für Geweihte der Zwölfgötter zu
ihrer Gottheit passende Gebete für Mahlzeiten bis hin zur Tempelweihung. In
passenden Spielsituationen spricht daher der Spieler der Boron-Geweihten (oder
zuvor die Efferdgeweihte) eins ihrer Gebete aus ihrem Büchlein – abgeschlossen
von einem mit der gesamten Runde gemeinsam gesprochenem „So sei es“ – dem
aventurischen „Amen“.
Inzwischen gibt
es aber noch ganz andere Formen von Ritualen, die Designer*innen in ihre
Konzepte eingebaut haben - dazu später. Zunächst möchte ich wenigstens kurz
anreißen, was ich mir unter Ritualen im Spiel vorstelle.
Die magische Wirkung von Ritualen
Daumen drücken hilft. Oder ist das ein neuer Resolution mechanism? |
Rituale im Spiel
haben die gleiche Wirkung wie im Alltag. Gemeinsame Rituale wirken Gemeinschaft
stärkend, generieren ein Gruppenbewusstsein und dass wir in denselben Takt
kommen, sorgen dafür, dass wir uns aus unserem sonstigen Alltag lösen und auf
die „Sache“ konzentrieren. Rituale im Alltag geben Sicherheit und
Selbstvergewisserung. Sich zur Begrüßung die Hand zu geben, einer
Fußballmannschaft die Daumen drücken, sich Glück wünschen für eine Prüfung,
eine Grabrede halten, Eheringe austauschen, eine Gute Nacht Geschichte erzählen
– das sind Alltagsrituale. Natürlich sind die Grenzen zu anderen
Handlungsformen fließend (Marotte, Konvention, indirekte Kommunikation,…) und
auch ein explizites Ritual kann viele weitere Bedeutungsebenen enthalten. Es
wird aber wohl nur unter größter Mühe gelingen einen Tag unter Menschen ohne
das Partizipieren irgendeines Rituals zu verbringen.
Auch ein Ritual: Kaffeepause |
Ich bin kein
Ethnologe und verlasse daher schleunigst dieses Minenfeld der korrekten
Definition von fachfremden Begriffen. Für den Spieltisch traue ich mir jedoch
zu, noch etwas mehr zu formulieren.
Im nächsten
Abschnitt interessieren mich vor allem ins Spieldesign integrierte Rituale.
Daher nutze ich noch kurz die Gelegenheit, um ein paar typische Rituale, die
ich von diversen Runden kenne, zu nennen.
Der Klassiker per
se ist sicher jedes „seltsame“ Verhalten mit den hochheiligen Spielgeräten –
den Würfeln. Ob diese tatsächlich angespuckt werden oder dies nur angetäuscht
wird (wir wollen es hoffen), ob ihnen vor wichtigen Würfen geschmeichelt oder
gedroht wird, ob bestimmte Würfel ausschließlich für bestimmte Würfe zum
Einsatz gebracht werden dürfen, das ist die große Magie, der sich selbst die
großen naturwissenschaftlichen Naturen mit Leidenschaft hingeben.
Ob das Lied irgendwer erkennt? Ist Rock. |
Auch
das Daumen
drücken und andere Formen des sich Glück wünschen für wichtige
Würfelwürfe sind
Klassiker. Einige Runden spielen zu Spielbeginn in erhabener Ruhe ein
Auftaktlied von der Stereoanlage ab – eine Art Titelmusik – die alle in
die
richtige Stimmung bringen soll. Für eine Kampagne haben wir einst ein
bekanntes Lied umgetextet und statt Konserve selbst zum Session Beginn
gesungen. Im gleichen Sinne werden oft zu Spielbeginn die
Lichtverhältnisse verändert. Wir haben eine Weile auch gerne mal ein
Räucherstäbchen entzündet oder eine besondere Kerze angezündet.
Jetzt die Schwarte zuklappen. Abend zu Ende. |
Beliebt scheint
mir auch ein magischer, ritualisierter Umgang mit den Charakterbögen zu sein.
Dazu gehört, wer diesen anfassen darf, was auf diesen „permanent“ notiert wird
und was nur auf Schmierzetteln und wie mit verbrauchten Charakterbögen
umgegangen wird. Bei gespielten Kaufabenteuern hat mir als SL
immer sehr gut gefallen, das Buch zum Ende des Abenteuers theatralisch zuzuklappen (bei den
300 Seiten Brocken von DSA besonders zu empfehlen…).
Rituale im Design
Im Regeldesign
verankerte Rituale sind mir allerdings bei den traditionell ausgerichteten
Spielen wie DSA, Splittermond oder D&D nicht mehr untergekommen (übrigens
scheint mir auch Fate Core komplett ritualfrei zu sein). Ich lasse mich
dahingehend gerne korrigieren, vermute aber mal, dass das an der Diversität der
Runden dieser Systeme liegt, die sehr unterschiedliche Spielarten beinhaltet. Da will ein System niemanden vergraulen.
Im Indie-Bereich
hingegen gibt es viele interessante Ansätze, Ritualen auch im Design wieder
größeren Raum zu geben. Einige Story Games verschreiben sich sogar explizit,
innovative Rituale zentral ins Design einzubinden.
Spannende Ansätze zu Ritualen aus dem Nordic Larp |
Rituale können im
Design recht versteckt sein. Für mich ist etwa die in Powered by the Apocalypse
(PbtA) Spielen verlangte Formel am Ende jedes MC-Moves „always end with: what
do you do“ eindeutig ein Ritual. Auch einige der MC-Prinzipien sind versteckte
Rituale, etwa dass die Spieler*innen immer und ausschließlich mit ihrem
Figuren-Namen angesprochen werden sollen, sobald man spielt und dass Moves nie
bei ihrem Namen genannt werden sollen.
Monsterhearts
geht einen Schritt weiter lässt das Spiel mit einem Ritual beginnnen: reihum
werden die Beschreibungstexte der einzelnen Playbooks vorgelesen:
To familiarize yourselves with all of the Skins, pass them
out amongst the players, then take turns reading the descriptive text aloud.
Read it in a melodramatic, over-the-top voice. This step is important! Reading
these Skins aloud will serve as an icebreaker for the group, helping them to
move beyond their bashful, adult uncertainty and into the world of teen monster
melodrama. – Monsterhearts 1st edition, Joe Mcdaldno
Der Effekt in
meiner Runde war enorm. Natürlich kommt einem das erst einmal albern vor. Ist
die natürliche Scheu aber einmal überwunden und macht man sich bewusst, dass von
außen betrachtet so mancher Teil des Hobbys nicht ernst zu nehmen ist (und dass
die „Champions League Hymne“ vor einem kommerziellen Fußball-Event zu singen
auch einen gewissen Grad von durchaus beschwingender Debilität besitzt), dann
erreicht man genau den von der Monsterhearts Autorin Avery Alder erhofften
Effekt: befreit startet die Runde in ein Genre, bei dem man intimer als üblich
in die Hauptrollen der erzählten Geschichte tauchen möchte.
Rituale: Übereinanderlegen von Wirklichkeitsschichten |
In Matthijs
Holters Archipelago gibt es gewisse Phrasen, mit denen die Spieler*innen
Einfluss auf die Geschichte nehmen können. Zum Beispiel „Try it a different way“,
wenn man mit dem von jemand anderem erzählten Fortgang nicht zufrieden ist (es
etwa ernster oder seichter haben möchte). Das läuft für mich ebenfalls unter „Ritual“,
da diese Phrasen in ihrer institutionalisierten Form auch enthemmen von der
Sorge, dass ein Eingriff unpassend sein könnte und dass alle Seiten wissen, „dass
das zum Spiel dazu gehört“.
Wie auch John Stravopolous X-Card oder die im Larp
üblichen Cut und Break helfen diese im Vorhinein vereinbarten
Kommunikationssignale eine komplexe Botschaft zu komprimieren und
Missverständnisse im Spiel zu vermeiden. Die Ritualisierung sorgt auch für eine
Normalisierung und das gemeinsame Wissen, dass diese Eingriffe eine
freundschaftliche Note haben, erlaubt uns im Spiel weiter zu gehen als ohne
diese Rituale.
Ein anderes
Rollenspiel verlangt, dass wenn eine Figur stirbt, dass das Charakterblatt der
Figur feierlich zerrissen wird. Die magische Kraft der tatsächlichen Zerstörung
und sei es nur ein Symbol ist ein kaum unterschätzbare Form der Ritualisierung
von Spielelementen. In Ten Candles von Stephen Dewey werden Konzepte, die zu
Ende erzählt sind, an einer Kerze in Flammen gesetzt und für Verstorbene (wenn
ich mich nicht täusche) eine von den namensgebenden Kerzen gelöscht. Bei Epidiah
Ravachols Dread, das als eigentlich übersimplen Auflösungsmechanismus einen
Jenga-Turm nimmt, aus dem man Blöcke zieht, ist der potenzielle Kollaps des
Turms, der metaphorisch an den eigenen Fingerspitzen hängt und zwischen den da
Spiel führenden Emotionen Hoffnung und Horror entscheidet.
Wikinger-Ritual oder Unsinn in Helsinki-Kneipe? |
Jason
Morningstar, vor allem durch Fiasco bekannt, hat in jüngster Zeit viel mit
Ritualen experimentiert. In Skeletons spielt man untote Skelette, die in einem
Dungeon auf Eindringline warten und über ihr Schicksal sinnieren. Um die unendliche
Zeit des Wartens zu repräsentieren, wird zwischen den Encounters das Licht
ausgemacht und eine zuvor festgelegte Zeit in der Dunkelheit gemeinsam am
Spieltisch gewartet – eine Minute kann lang sein. Bei Fiasco wird zum Epilog
jeweils einer der Würfel, die man vor sich liegen hat rituell in die Höhe
gehalten und ein Satz zum zukünftigen Schicksal der eigenen Figur mit den
Worten „This is [my character]…“ begonnen.
Gemeinsam mit Ole Peder Giaever, der auch Itras By herausgebracht hat, hat Morningstar ein Spiel
namens Old Friends geschrieben, bei dem mit einer Maske die Anwesenheit eines Geists dargestellt
wird. Das Aufsetzen der Maske ändert nicht nur für die anderen sondern auch für
einen selber die Perspektive. Wer hätte gedacht, dass die Maske des Meisters
von 1984 einmal so ein Comeback feiern würde?
Wiederholung ist
ebenfalls eine starke Kraft, um ein bestimmtes Empfinden zu verstärken. Wie
Märchen immer mit der gleichen Phrase beginnen und enden („Es begab sich einst…“
/ „und wenn sie nicht gestorben sind…“), so kann ein Ritual der Eröffnens und Schließens
enorm zur Immersion beitragen.
Das Cafè Sarabande |
Beim Larp Café Sarabande beginnt jede Szene mit einem Musikstück, zu dem jede Figur eine für
sie typische Szene (in Aktion mit anderen) darstellt – ähnlich wie das Intro
einer Vorabendserie. Die Spieler*innen sind angehalten je nach Verlauf der
Geschichte kleine Varianten zu ändern, aber doch das Grundmuster beizubehalten.
So habe ich als Wissenschaftler zuerst freudig, dann immer verbitterter mit
einem Kollegen an einer Tafel diskutiert. Der andere Spieler und ich hatten somit
die Chance uns immer wieder zu synchronisieren, wie die Beziehung der Figuren
zueinander ist. Bei For here our sister lies von Shoshana Kessock beginnt jede
Szene mit einem schweigenden Zirkel der Ratsältesten des Amazonas Volkes, das
wir verkörperten während die Spielleitung die eröffnenden Worte der Ratssitzung
sprach.
Technologie ist
ebenfalls ein neuer Weg für Rituale. In Ten Candles wird zu Beginn des Spiels von
allen Mitspielenden eine Audio-Aufnahme privat aufgenommen über die eigenen
Hoffnungen und Ideen. Am Ende sterben üblicherweise alle Figuren (es geht um
eine Apokalypse). Zum Spielende werden die Aufnahmen gemeinsam angehört. In
ViewScream 2 von Rafael Chandler, das man komplett In Character per Videochat spielt, hat jeder Charakter einen
End-Monolog, der mit dem rituellen Ausloggen aus dem System endet (InGame wie
OutofGame mittels Ausschalten von Mikro und Kamera). Wenn alle Kameras schwarz
und stumm sind ist das Spiel beendet.
More to come
Ich bin sicher,
dass wir noch viel mehr solche rituellen Ingredienzen in unseren Spielen in
Zukunft finden werden.
In meiner
Stammgruppe haben wir peu a peu einige Elemente aus anderen Kontexten
übernommen und in unsere aktuelle Kampagne (Sieben Gezeichnete, der Klassiker
bei DSA) eingebaut. Bei einer von Spuk und Geistergestalten geprägten Session
etwa vertrieben wir vor Spielbeginn die Geister aus unserem Spielort. Ja, wir
sind tatsächlich mit Musikinstrumenten und allem was Krach macht durch die
Wohnung gelaufen und haben die Ecken, in denen sich Geister mutmaßlich am
liebsten aufhalten würden, vertrieben. Das war so wunderbar albern, dass wir
uns danach bereit fühlten, den Geistern im Spiel auf die Pelle zu rücken („get
the sillies out“).
Mein "Gaming-Style" - mag die Vorliebe für Rituale erklären |
Auch rituelle
Phrasen sind meiner Ansicht nach hervorragend für den dauerhaften Einsatz zu
gebrauchen: für den Spielbeginn wie für das Ende einer Sitzung, aber auch im
Sinne von Fanmail oder um wie bei Archipelago einen Impuls für die
Mitspielenden zu geben.
Eine sehr schöne
Ritualisierung sind für mich auch Love Letters, mit denen ich zwischen
Sitzungen etwas über das Spiel oder andere Figuren schreibe – und das dann zu
Beginn oder zu passender Szene im eigentlichen Spiel vorlese.
Aus dem
Larp-Kontext genommen, aber hervorragend für das Spiel mit intensiveren
Settings geeignet, empfinde ich rituelle Elemente von Debriefings. Beispielsweise
wird empfohlen, sofort nach Spielende in die dritte Person zu wechseln, wenn
man die sogenannten „War stories“, also die Geschichten, die der eigene
Charakter erlebt hat, austauscht. Das schafft Distanz und erlaubt einen neuen
Blickwinkel auf das eben Erlebte einzunehmen. Wie beim Epilog von Fiasco hilft
es, wenn man ein beliebiges Objekt zur Hand nimmt und dieses als die eben noch
gespielte Figur adressiert. „Das hier [dieser Bleistift] ist [mein Charakter]“
beschreibt man, und erzählt dann inwiefern man a) selber gerne mehr wie dieser
Charakter wäre und b) was man überhaupt nicht leiden konnte an diesem
Charakter.
Fazit
Es gibt noch einiges
zu entdecken beim Thema Rituale im Rollenspiel. Einiges ist ikonisch für unser
Hobby wie die Magie der Würfel, anderes hat jede Gruppe für sich gefunden. Im
Design verankerte Elemente hat es ebenfalls schon lange gegeben, auch wenn sie
eine Weile einen Ruf der Albernheit hatten und vermieden wurden. Dass die Szene
inzwischen erwachsen genug ist, um sich wieder ernsthaft mit solchen Elementen
zu beschäftigen und aus verwandten Szenen spannende Einflüsse kommen, gibt mir
die Hoffnung, dass uns spannende Zeiten im Game Design bevorstehen.